Mit der Wahl von Annalena Baerbock und Robert Habeck
legen die Grünen einen bemerkenswerten Neustart hin: Sie wollen das
Erbe der SPD antreten, indem sie die soziale Frage neu stellen.
Das muss man erst mal schaffen. Den Wahlkampf
ziemlich vergeigen; den Wahltag mit einem mittelmäßigen Ergebnis
beenden; nach den anschließenden Sondierungsgesprächen mit leeren Händen
dastehen und wenige Wochen später trotzdem selbstbewusst zum Angriff
blasen. Selten hat eine Partei nach so vielen Nackenschlägen so schnell
wieder neue Kraft entwickelt.
Mit Annalena Baerbock und Robert Habeck haben sich die Grünen
zwei sehr leidenschaftliche und zugleich unideologische Personen an die
Spitze gewählt. Und sie haben das nicht mit großen Zweifeln getan,
nicht vorsichtig, zögerlich, unsicher. Sie haben die beiden Realos
ausgewählt, weil sie diese beiden unbedingt haben wollten. Sie
identifizieren sich mit den beiden; sie haben sich mit Freude von ihnen
anstecken lassen. Sie haben nachgerade Lust darauf, mit Baerbock und
Habeck neue Macht zu erstreiten.
Die Grünen haben schon viele Vorsitzende kommen
und gehen sehen. Aber die Wahl dieser beiden bringt etwas Besonderes:
Die Grünen wollen mehr als jemals zuvor hart streiten und
regieren. Der dafür bemerkenswerteste Satz kam von Jürgen Trittin. Er
sagte, man dürfe nicht länger zwischen Parteiidealismus und
Regierungspragmatismus unterscheiden. Ja, man dürfe beides nicht mehr
länger gegeneinander ausspielen. Da wird neues Vertrauen möglich, wo
bislang Misstrauen herrschte.
Baerbock und Habeck verkörpern alles, wonach die Partei sich sehnt
Dabei ist eines offenkundig: Die aktuelle Stärke der Grünen speist sich auch aus der Schwäche der Konkurrenten. Wer der SPD beim Ringen um ihre Zukunft zuschaut, muss sich Sorgen um die Volkspartei machen. Wer die Grünen in Hannover beobachtet hat, der spürt, dass diese Partei mit Habeck und Baerbock drauf und dran ist, den Sozialdemokraten auf die Pelle zu rücken. Wo bei der SPD Zweifel und Unsicherheit dominieren, haben die Grünen eine neue Führung gewählt, die nicht nur viel Leidenschaft mitbringt, sondern das größte Problem im Land zentral in den Blick nimmt: den bedrohten Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Besonders aber ist in Hannover noch etwas anderes: Habeck und Baerbock sprechen nicht mehr nur über die Rettung des Klimas und den Schutz für Flüchtlinge. Sie stellen die soziale Frage, und sie stellen sie neu. Nicht mehr nur darüber, wie groß eine Vermögensteuer sein müsste. Sie reden nicht so sehr über Instrumente; sie sprechen neu über ihre wichtigsten Ziele.
Die Grünen werden auch in Zukunft streiten
Sie wissen um das Problem von Eltern, die ihre Kinder nicht auf einen Kindergeburtstag schicken, weil sie das Geschenk nicht bezahlen können. Sie reden über die fatalen Konsequenzen, wenn Menschen auf dem Land oder in großen Städten durch zu hohe Mieten, durch zu wenig Ärzte oder den Abbau öffentlicher Strukturen ihre Heimat verlieren. Sie suchen Antworten auf die in alle Lebensbereiche ausgreifende Digitalisierung und fragen sich, was passieren muss, wenn Digitalisierung nicht nur schön und schnell ist, sondern daneben mal eben Hunderttausende Arbeitsplätze überflüssig macht.Baerbock, Habeck, die Grünen tun also eines: Sie stellen sich die Fragen, die die Menschen heute und jetzt umtreiben. Und sie tun das mit einem hohen sozialen Anspruch. Baerbocks zentraler Satz lautet: "Die größte Schande in diesem Land ist die Armut, die keiner sieht." Und Habeck gibt das Ziel aus, die Menschen an den Rändern nicht weiter abdriften zu lassen. Deshalb müssten die Institutionen des Gemeinwesens neu gestärkt werden. Während Union und SPD sich mühsam in Richtung Koalition schleppen, bündeln die Grünen ihre Kräfte für neue Aufgaben.