Quelle Campact
Die Chance oder der Fluch von Jamaika
Jamaika – ein Vierer-Bündnis aus CDU, CSU, Grünen und FDP. In allen
Umfragen ist diese Koalition eine der unbeliebtesten
Konstellationen.[2] Doch es bleibt die einzige Option, die noch im Raum
steht, nachdem die SPD der Großen Koalition eine klare Absage erteilt hat. Durch
viele Rückmeldungen wissen wir: Auch unter den Campact-Aktiven ist Jamaika sehr
umstritten. Für manche überwiegt die Chance auf Fortschritte beim Umwelt- und
Klimaschutz. Andere befürchten den Ausverkauf und Verrat von grünen Idealen –
und die Spaltung der Partei. Und viele sind zerrissen, weil der Verstand sagt,
dass der Ausgang der Wahl Jamaika aufdrängt – aber der Bauch doch
rebelliert.
Jamaika stellt alle Beteiligten vor immense Zerreißproben. Christian Lindner
(FDP) und Cem Özdemir (Grüne) sind zwar per Du, aber im Wahlkampf haben sie sich
gegenseitig so heftig wie kaum jemand anderes attackiert. Das mag auch
inszeniert gewesen sein, aber klar ist: Die Positionen bei Kernthemen
der beiden Parteien liegen diametral auseinander. Und nicht viel
einfacher wird es mit Horst Seehofers CSU, die nächstes Jahr in Bayern die
absolute Mehrheit holen will und die AfD im Nacken hat.
Immerhin in einem Themenfeld könnte es gelingen, progressive Inhalte mit
Jamaika durchzusetzen: bei der Ökologie. Warum? Weil die grüne Basis Jamaika
sehr skeptisch gegenübersteht. Ohne einen konsequenten Kohleausstieg und einen
schnellen Ausbau der Erneuerbaren, ohne den Abschied vom Verbrennungsmotor und
einer Agrarwende brauchen Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt und Co. den
Koalitionsvertrag keinem grünen Mitgliederentscheid vorlegen. Ernst
machen beim Klimaschutz – eigentlich sollte das auch in Merkels Interesse
sein: Nach einer neuen Studie wird Deutschland sein Klimaschutzziel für
2020 krachend verfehlen, wenn nicht massiv umgesteuert wird.[3] Nur mit grüner
Politik kann sie verhindern, als „Klimakanzlerin“ international blamiert
dazustehen.
Doch Jamaika birgt auch ein fatales Risiko: Dass die Grünen
sich alleine auf die Frage der Ökologie verlegen und andere Fragen aus dem Auge
verlieren. Besonders Europa. Wer im Wahlkampf beobachtet hat, was Christian
Lindner und sein Wahlprogramm fordern, dem wird Angst und Bange. Mit der FDP in
der Regierung könnte die Euro-Krise zurückkehren.[4] Was die Lindner-Truppe
will? Griechenland aus dem Euro werfen. Das würde Anleger auch in Italien,
Spanien und Portugal verunsichern; die Krise wäre zurück. Zudem soll weg, was
bisher die Euro-Krise erfolgreich eingedämmt hat: die Niedrigzinspolitik der EZB
– Europas Stabilitätsmechanismus (ESM).[5] Die AfD lässt grüßen.
Und damit nicht genug: Die FDP könnte die Chance verspielen,
die Emmanuel Macron verspricht. Denn so neoliberal große Teile der
Arbeitsmarkt-Reformen des neuen französischen Präsidenten sind: Für Europa will
er das Richtige. Das, was der Euro-Zone fehlt, will Macron jetzt im
Schulterschluss mit Deutschland erreichen. Erstens mehr Solidarität: ein
solidarisch finanziertes Budget der Eurozone, mit dem dringend nötige
Investitionen etwa in die Infrastruktur getätigt werden können. Denn mit „Sparen
bis es quietscht“ kommt man nicht aus der Krise. Zweitens mehr Demokratie: Die
Eurogruppe soll demokratisch kontrolliert werden. Das Budget muss von einem
europäischen Parlament legitimiert und einem EU-Finanzminister gesteuert
werden.
Wenn Deutschland und Frankreich gemeinsam Europa demokratischer und
solidarischer gestalten würden, wäre das eine große Chance. Doch mit der FDP an
der Regierung wird das schwer. „Macrons Albtraum“ – so bezeichnete die
französische Tageszeitung Le Monde eine Regierungsbeteiligung der Liberalen in
Deutschland.[6] Die Konsequenz muss sein: Die Grünen dürfen nur einer
Regierung beitreten, die klar ihre Vorschläge aus dem Wahlkampf für mehr
Demokratie und Solidarität in Europa umsetzt.
Als drittes ist zentral: Sozialpolitisch muss Jamaika liefern. Besonders wenn
so viele Menschen den Eindruck haben, dass es in diesem Land nicht gerecht
zugeht und auch darum AfD wählen. Kinderarmut, die katastrophalen
Zustände in der Pflege, die Zwei-Klassen-Medizin, das zunehmende Armutsrisiko im
Alter, die Schere zwischen Arm und Reich – all das schreit zum Himmel.
Eine Bürgerversicherung, ein entschiedenes Vorgehen gegen Steuerflucht, eine
Mindestrente: Es braucht konkrete Projekte.
Die verpatzte Einführung der rot-grünen Ökosteuer vor bald zwanzig Jahren hat
gezeigt: Die ökologische und die soziale Frage müssen gemeinsam
beantwortet werden. Wenn mehr öko mehr kostet, muss das sozialpolitisch
abgefedert und ausgeglichen werden – sonst fehlt schnell der gesellschaftliche
Rückhalt.
Sollte Jamaika wirklich kommen, ist für Campact klar: Bei CETA werden wir die
Grünen an ihren Versprechen aus Oppositionszeiten messen. Als im letzten Jahr
Hunderttausende die Straßen beim Protest gegen das neoliberale
EU-Handelsabkommen mit Kanada füllten, war die Öko-Partei in vorderster Reihe
dabei. Jetzt darf sie nicht den Winfried Kretschmann machen, der als grüner
Ministerpräsident von Baden-Württemberg CETA schönredet – und dabei lieber nicht
so genau in den Vertragstext schaut.[7] Womöglich wird schon nächstes
Jahr im Bundestag über die Ratifizierung von CETA entschieden. Die Grünen müssen
weiter klar Nein sagen. Zudem braucht es Standards für neue
Handelsverträge: Schiedsgerichte müssen der Vergangenheit angehören, die
Verhandlungen transparent geführt und hohe Sozial- und Umweltstandards verankert
werden.
Der Koalitionsvertrag steht allerdings nicht allein im Fokus. Es kommt auch
auf die Verteilung der Ressorts an: Wenn die Grünen etwas gestalten
wollen, sollten sie das Finanzministerium für sich reklamieren. Hier wird
Europa-Politik gemacht. Hier kann man Steuerflucht bekämpfen und die
Macht der Finanzmärkte begrenzen. Hier wird das gerade üppig vorhandene Geld im
Bundeshaushalt verteilt, mit dem man ökologische und soziale Transformation
gestalten kann. Sich wie in Joschka Fischers Zeiten das Außenministerium holen –
damit gäbe man Gestaltungsanspruch zu Gunsten von Prestige auf. Außenpolitik?
Die wird unter Merkel im Kanzleramt gemacht.
Fatal wäre es, wenn die Koalitionäre und besonders die Grünen aus
Machtwillen und persönlichen Ambitionen die Regierungsbeteiligung
suchen, während progressive Inhalte fehlen oder unkonkret bleiben. Gibt
ein Koalitionsvertrag das nicht her, könnte ein Scheitern von Jamaika die
bessere Option sein.